Ich erinnere mich noch genau an den Moment: Wir standen an der Supermarktkasse, mein Kind war völlig überfordert, und eine Frau neben mir flüsterte zu ihrer Begleitung: „Tja, diese Helikopter-Eltern heutzutage…“ Ich atmete tief durch. Wieder einer dieser Momente, in denen mir bewusst wurde: Die Menschen verstehen es einfach nicht.
Wenn man als Elternteil eines autistischen Kindes immer wieder dieselben Vorurteile hört, kann das frustrierend sein. Aber es zeigt auch, wie wichtig Aufklärung ist.
Autismus ist ein Spektrum – individuell, vielfältig und komplex. Lassen Sie uns die drei häufigsten Mythen über Autismus entlarven und aufzeigen, was Eltern wirklich wissen sollten.
Autismus Mythos 1: Autismus betrifft nur Jungen
„Mädchen mit Autismus? Das gibt es doch kaum…“
Ich nicke. „Doch, nur werden sie oft nicht erkannt. Wissen Sie, warum?“
„Hm, weil sie es vielleicht nicht so stark haben?“
Ich atme tief durch. „Nein, sondern weil sie oft besser darin sind, sich anzupassen. Viele Mädchen lernen, andere zu imitieren – sie beobachten, wie ihre Freundinnen sich verhalten, und spielen die Rolle nach. Aber das bedeutet nicht, dass es ihnen leichtfällt.“
Autistische Mädchen bleiben oft unerkannt, weil sie „maskieren“ – sie kopieren soziale Verhaltensweisen bewusst, um nicht aufzufallen. Doch hinter dieser Fassade kostet sie jeder soziale Moment unglaublich viel Energie.
Eine Studie im Journal of Autism and Developmental Disorders zeigt, dass autistische Mädchen seltener diagnostiziert werden, weil ihre Symptome subtiler sind und sie sozial besser kompensieren können (Rivet & Matson, 2011).
Was bedeutet das für Eltern?
Achtet auf subtile Zeichen wie extreme soziale Erschöpfung nach Gruppenaktivitäten. Vertraut eurer Intuition – wenn ihr das Gefühl haben, dass eurer Kind Unterstützung braucht, lasst euch sich nicht von veralteten Diagnosestandards verunsichern.

Mythos 2: Autistische Kinder haben kein Einfühlungsvermögen
„Ich habe ihm gesagt, dass ich traurig bin, aber er hat mich nicht getröstet… Autisten haben halt keine Empathie, oder?“
Ich schüttle den Kopf. „Empathie sieht nicht immer aus wie eine Umarmung oder ein tröstendes Wort. Manche Kinder zeigen sie auf ganz andere Weise.“
Ich erzähle von einem Jungen, den ich kannte: Sein Vater hatte einen schlechten Tag und saß schweigend auf dem Sofa. Das Kind sagte nichts – es brachte einfach seine Lieblingsdecke, legte sie neben ihn und setzte sich wortlos dazu.
War das kein Mitgefühl?
Autistische Kinder empfinden oft sehr tief – sie zeigen es nur anders. Manche drücken ihre Empathie durch Nähe aus, andere durch kleine Gesten. Studien haben gezeigt, dass viele autistische Menschen hochsensibel für die Emotionen anderer sind, aber Schwierigkeiten haben, diese adäquat zu interpretieren oder zu kommunizieren (Bird et al., 2010).
Was bedeutet das für Eltern?
Seht Empathie nicht nur in klassischen Formen – manchmal ist sie still und sanft. Schafft eine Umgebung, in der euer Kind seine Gefühle in seinem eigenen Tempo ausdrücken darf.
Mythos 3: Autismus bedeutet entweder Genialität oder eine schwere Behinderung
Filme und Medien haben das Bild geprägt, dass autistische Menschen entweder mathematische Wunderkinder sind oder nicht selbstständig leben können.
Autismus ist ein Spektrum. Während einige autistische Menschen außergewöhnliche Talente in bestimmten Bereichen haben, trifft dies nur auf einen kleinen Prozentsatz zu. Die Mehrheit der autistischen Menschen hat individuelle Stärken und Herausforderungen, die nicht in diese extremen Kategorien passen.
Eine Studie aus dem Jahr 1978 ergab, dass etwa einer von zehn Autisten eine Inselbegabung besitzt (Treffert, 2009). Neuere Untersuchungen legen nahe, dass diese Fähigkeiten oft durch intensive Fokussierung auf ein Interessengebiet entstehen – aber das bedeutet nicht, dass alle Autisten Genies sind.
Was bedeutet das für Eltern?
Fördert die Stärken Ihres Kindes, ohne es in Schubladen zu stecken. Feiert Fortschritte – egal ob klein oder groß.
FAQ – Häufige Fragen von Eltern
Mein Kind schaut mir trotz Autismus in die Augen – wie ist das möglich?
Der Mythos, dass autistische Kinder keinen Blickkontakt halten, ist weit verbreitet. Tatsächlich vermeiden manche autistische Menschen den Blickkontakt, weil er für sie unangenehm ist. Andere hingegen lernen, ihn bewusst herzustellen, weil sie wissen, dass es sozial erwartet wird.
Wie kann ich anderen erklären, was Autismus wirklich ist?
Nutze einfache Vergleiche: „Stell Dir vor, Du bist in einem Raum mit 100 Radios, die gleichzeitig spielen. So fühlt sich mein Kind manchmal in lauten Umgebungen.“ oder „Denk an ein Mischpult mit vielen Reglern für Geräusche, Licht, Emotionen und soziale Signale. Bei autistischen Menschen sind manche Regler viel zu hoch aufgedreht – zum Beispiel Geräusche oder Berührungen, die schnell überwältigend sein können. Andere Regler sind sehr leise, etwa das Erkennen von Mimik oder das Verstehen von unausgesprochenen Regeln. Diese Unterschiede machen den Alltag herausfordernd.“
Wie helfe ich meinem Kind, wenn es überfordert ist?
Schaffen Sie eine ruhige und vorhersehbare Umgebung. Manchmal reicht es, einfach nur präsent zu sein und Ihrem Kind Sicherheit zu geben, ohne viele Worte.
Reflexionsübung für Eltern
Nimm Dir einen Moment Zeit. Setz Dich bequem hin, atme tief ein und schließe die Augen.
Stell Dir Dein Kind vor. Nicht durch die Brille der Herausforderungen, nicht durch die Blicke von Außenstehenden – sondern so, wie es wirklich ist.
Lass die kleinen, besonderen Momente vor Deinem inneren Auge erscheinen:
- Wann hast Du Dein Kind zuletzt lächeln sehen?
- Welche Dinge bringen es zum Leuchten, zum Staunen, zum Strahlen?
- Was liebt es so sehr, dass es darin ganz aufgeht?
Vielleicht ist es die Art, wie es Dinge entdeckt, wie es sich tief in ein Thema vertieft oder wie es mit seinen eigenen Regeln durch die Welt geht. Vielleicht ist es seine Echtheit, sein Mut oder die Liebe, die es auf seine ganz eigene Weise zeigt.
Bleib einen Moment bei diesem Bild. Lass Dein Herz weit werden für alles, was Dein Kind ausmacht.
Jetzt frag Dich:
Wie kannst Du heute Dein Kind genau dafür wertschätzen?
Vielleicht mit einem bewussten Lächeln. Vielleicht, indem Du mit ihm in seine Welt eintauchst. Oder vielleicht einfach, indem Du diesen Moment in Dir bewahrst.
Atme tief ein. Nimm dieses Gefühl mit in Deinen Tag.